5vor12 Klima-Briefing: Wie extrem wird es?
Hier kommt die Einladung zum nächsten Klima-Briefing am 6. September über Wetterextreme – und unsere Learnings aus dem Gespräch mit Stefan Rahmstorf.
Hallo,
den Schwung aus dem ersten Klima-Briefing nehmen wir mit in die neue Woche: Es war seit Langem der größte Online-Austausch von Journalist*innen im deutschsprachigen Raum zur Klimakrise. Wir freuen uns weiterhin über neue Anmeldungen. Zuletzt kamen Kolleg*innen vom ORF, Correctiv und den Badischen Neuesten Nachrichten dazu. Das riesige Interesse zeigt uns: Es ist höchste Zeit für mehr Debatten und Klima-Wissen. Schön, dass du dabei bist!
In dieser Email findest du einige Learnings aus unserem Gespräch mit Stefan Rahmstorf und eine kleine Vorbereitung auf das nächste Klima-Briefing mit IPCC-Leitautor Douglas Maraun über “Hitze, Starkregen, Dürre – was passiert lokal?”
5vor12 KLIMA-BRIEFING MIT DOUGLAS MARAUN
Mittwoch, 06. September, 11.55 – 13 Uhr
Netzwerk Klimajournalismus auf ZOOM
Meeting-ID: 639 5170 3589
Kenncode: 843161
KEY LEARNINGS … ÜBER KIPPPUNKTE
Die Lage ist komplex. Aber nicht aussichtslos.
Es gibt noch einige Ungewissheiten in der Forschung rund um Kipppunkte. Wer darüber in Kapitel 4.7.2 des IPCC-Berichts nachliest, findet immer wieder Begriffe wie “medium confidence” oder “low confidence” – vor allem wenn es darum geht, wann genau ein Kipppunkt erreicht ist. Eines ist aber sicher, sagt Rahmstorf, und zitiert den IPCC-Bericht: “Die Wahrscheinlichkeit, dass wir abrupte oder irreversible Veränderungen erleben werden, wächst, je wärmer die Erde wird. High confidence.”
Mehr über die Begrifflichkeiten erfährst du auf der Seite des Weltklimarats IPCC. Und im Handbuch “Über Klima sprechen” von klimafakten.de gibt es ein Kapitel speziell zur Wissenschaftssprache.
Was wir jedenfalls wissen: Ab der Grenze von 1,5 °C Erderwärmung wird das Risiko deutlich höher, Kipppunkte zu überschreiten. Der Kompromiss im Abkommen von Paris, die globale Erwärmung auf “deutlich unter 2 °C” zu begrenzen, ist also nicht zufällig gewählt, sondern beruht auf physikalischen Tatsachen: Je wärmer es wird, desto schneller schmilzt etwa der Grönland-Eisschild – bis zu einem Punkt, an dem dieser Prozess nicht mehr zu stoppen ist. Die Folgen sind vor allem für Küstenstädte bedrohlich, für Millionen Menschen im Globalen Süden genauso wie für Hamburg, London, New York.
AUF EINEN BLICK
In dieser Meta-Studie von 2022 wurden erstmals die Ergebnisse verschiedener Forschungsansätze zu Kipppunkten zusammengefasst:
Wer sich nicht sicher ist, wie relevant eine neue Studie ist, findet meist beim Science Media Center Hilfe. Ein Kollege vom Deutschlandfunk appellierte übrigens letzte Woche im Call: Anstatt über eine Studie zu berichten, weil sie umstritten ist, lieber das große Ganze im Blick behalten: Was ist zu tun?
NACHGEHAKT
“Wahrscheinlichkeiten sind für die meisten Menschen schwierig zu verstehen und (emotional) einzuordnen. Wie schafft man es, weder „Wird schon gutgehen“ noch „Panik!“ zu erzeugen? Und stattdessen eine Akzeptanz zu erreichen für notwendige Maßnahmen?”
Stefan Rahmstorf: “Die Frage ist ja eigentlich: Wie gehen wir als Gesellschaft mit größeren Risiken um? Welches Risiko eines Super GAU in einem Atomkraftwerk würden wir akzeptieren? Atomkraftwerke sind auf einen Großunfall alle 10.000 Betriebsjahre ausgelegt. Keiner würde hier ein Risiko von “nur 10 Prozent” akzeptieren, wie wir es bei Kipppunkten haben. Wir müssen solche Risiken, die den ganzen Planeten letztlich massiv verändern würden, mit 99,99 Prozent ausschließen und daraus Schlüsse ziehen – zumindest minimale Anstrengungen, so wenig CO2 wie möglich zu emittieren und nicht schon zu sagen: Klimaschutz ja, aber ein Tempolimit ist uns zu unbequem.”
“Welche Bilder können helfen, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen?”
Diese Bilder für Kipppunkte gefallen uns besser als die Kaffeetasse, die vom Tisch kippt: Das Kanu, das trotz Wellen ziemlich sicher im Wasser liegt… bis zu einem gewissen Punkt, an dem es kopfüber kippt und nur mit sehr viel Kraftanstrengung wieder geborgen werden kann – wenn überhaupt. Jonas Schaible schreibt in seinem neuen Buch von einem brennenden Haus, das zwar noch lange steht, aber irgendwann unweigerlich in sich zusammenbricht. Um den Schaden wieder zu beheben, bräuchten wir mehr Energie oder Ressourcen, als uns zur Verfügung stehen, wenn wir die Welt als unser Haus sehen. Im Onboarding Klimajournalismus Newsletter lesen wir von einem Maiskorn, das mit einem Mal zum Popcorn wird und seinen Zustand auch dann nicht wieder ändert, wenn wir den Topf abkühlen.
MEDIENKRITIK
Stefan Rahmstorf: “Weil Wetterextreme schon jetzt ein spürbarer Faktor der Erderwärmung sind, bieten sie oft die Gelegenheit, auf die Klimakrise hinzuweisen. Wichtig finde ich: Experten im O-Ton zu zitieren und zwar solche, die tatsächlich an dem Thema arbeiten. Also mich muss man nicht über Wolkenphysik ausfragen, das ist einfach nicht mein Forschungsfeld.”
In der Datenbank des Oxford Climate Journalism Networks findest du Expert*innen aus dem Globalen Süden zu vielen konkreten Gebieten. Und das österreichische CCCA, mit dem wir für die Klima-Briefings zusammenarbeiten, hat eine Kompetenzlandkarte erstellt.
UND JETZT?
Nachschauen: Falls du Stefan Rahmstorf nicht live erlebt hast im 5vor12 Klima-Briefing: Hier gibt es sein Kipppunkte 101 auf Youtube
Abspeichern: Diese Studie von Armstrong McKay et al. (2022) und das Kapitel 4.7.2 des IPCC-Berichts geben dir aktuell den besten Überblick zu Kipppunkten im Klimasystem
Wir nehmen mit: Eine Stunde ist knapp bemessen für eine Diskussion über komplexe Forschungsfragen und Medienkritik. Uns ist klarer geworden, dass es in der Berichterstattung nicht unbedingt um die physikalischen Einzelheiten gehen muss, sondern um das größere Bild: Die Lage ist ernst. Und sie wird mit jedem Zehntelgrad ernster, denn das Risiko für Kipppunkte steigt. Weil die meisten Leser*innen noch schlechter in Wahrscheinlichkeitsrechnung sind als wir, lohnt es sich, eine bildhafte Sprache zu verwenden. Anstatt also Kipppunkte in jedem Bericht zu erwähnen, lieber die brennenden Fragen stellen: Wie viel Risiko wollen wir auf uns nehmen, wenn es um irreversible Veränderungen für Ökosysteme, Städte, unser Leben geht?
Wir freuen uns, wenn du am Mittwoch wieder dabei bist, wenn es um Starkregen, Hitzewellen und Dürren geht. Zur Einstimmung haben wir für dich einige Beispiele, die uns gut gefallen haben:
BEST PRACTICE
Der Meteorologe Bjorn Stevens fordert die Klimaforschung im ZEIT-Interview heraus: Bislang könne niemand sagen, wie sehr Hitze und Starkregen uns künftig zusetzen. Das will er jetzt ändern. Lesenswert!
Das Investigativ-Medium Correctiv.org hat sich für Deutschland angeschaut, wie die Kommunen auf Wetterextreme vorbereitet sind (Spoiler: nicht so gut). Steilvorlage für Geschichten, die das Globale im Lokalen erzählen.
Dieser Sommer war vielleicht der normalste, den wir in den nächsten Jahren erleben werden. Eine Bilanz in eindrucksvollen Bildern von der BBC.
Viele Grüße,
Theresa Leisgang und Lukas Bayer
fürs Netzwerk Klimajournalismus Deutschland & Österreich